UPDATE 09.11.2022: Unser Team hat an der State of the Map 2022 Tagung in Florenz, die neuerdings wieder in-Person stattfindet, teilgenommen. Wir haben bei Workshops mitgemacht, Vorträge angehört und hatten außerdem die Gelegenheit, unser eigenes Poster über die Zugänglichkeit von Abtreibungskliniken in Deutschland zu präsentieren, das in diesem Beitrag besprochen wird und hier zu finden ist.
In diesem Blogpost werden wir zusätzliche Informationen und Karten zu dieser Thematik besprechen, die nicht auf dem Poster enthalten waren.
Intro
Angeregt durch Karten der New York Times¹ und des Katapult Magazins² über das gekippte Urteil Roe v. Wade des Obersten Gerichtshofes der USA und die Aufhebung des §219a durch den Deutschen Bundestag haben wir eine Analyse der Zugänglichkeit von Abtreibungsdiensten in Deutschland durchgeführt.
Der Paragraph 219a verbietet es Ärztinnen und Ärzten, über Abtreibung zu informieren und diese zu „bewerben“. Ärztinnen und Ärzte dürfen nun auf ihren Websites darüber informieren, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen und welche Methoden sie anwenden. Bisher mussten die Mediziner*innen selbst dafür sorgen, dass sie auf der Liste der Bundesärztekammer stehen, die bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Mit Daten aus dieser Liste konnten wir die hier besprochene Erreichbarkeitsanalyse durchführen.
Ein einfacher und schneller Zugang zu diesen Informationen ist für die betroffenen Frauen von enormer Bedeutung, denn je früher der Abbruch durchgeführt wird, desto weniger invasiv ist er¹².
Hintergrund von Abtreibungen in Deutschland
Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland kein seltener medizinischer Eingriff. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, wurden im Jahr 2021 insgesamt 94.596 Schwangerschaftsabbrüche registriert. Im ersten Quartal 2022 wurden 4,8 % mehr Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt als im ersten Quartal des Vorjahres. Im Jahr 2021 war die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche sogar um 5,4 % niedriger als im Jahr 2020. Dennoch ist der Schwangerschaftsabbruch faktisch immer noch illegal⁴; das im § 218 kodifizierte Abtreibungsstrafrecht besteht seit 1871. Seit 1972 (DDR) und 1976 (BRD) ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt⁷. Der Paragraph schreibt darüber hinaus eine obligatorische Beratung bei einer anerkannten Beratungsstelle und eine dreitägige Bedenkzeit vor. Nach der 12-Wochen-Frist sind Abtreibungen nur in Ausnahmefällen erlaubt, z. B. „[…] zur Abwendung einer Gefahr für das Leben oder der Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Gesundheitszustandes der Schwangeren […]“⁹.
Die Abtreibungsgesetze in der EU sind nicht einheitlich. Fast alle Länder erlauben den Schwangerschaftsabbruch, haben aber unterschiedliche Regelungen bezüglich der Frist. In den Niederlanden ist eine Abtreibung bis zur 24. Woche gesetzlich möglich. Jede 3. bis 4. in Deutschland lebende Frau, die nach den ersten 12 Wochen eine Abtreibung vornimmt, entscheidet sich für eine Abtreibung in den Niederlanden. Diese Zahl beruht jedoch nicht auf einer empirischen Studie, sondern auf Berichten von Ärzten. Die Forschung über so genannte „Abtreibungsreisen“ innerhalb der EU steckt noch in den Kinderschuhen und wird vom Europäischen Forschungsrat¹⁰ finanziert.
In der Regel kann ein Schwangerschaftsabbruch entweder durch einen medizinischen oder einen chirurgischen Eingriff vorgenommen werden. Der chirurgische Abbruch (Aspirationsmethode) ist die häufigste und mildeste Variante, die unter örtlicher Betäubung oder Vollnarkose durchgeführt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Patientin danach kein Auto mehr fahren darf und somit auf andere Personen oder öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist. Da nicht alle Menschen ein unterstützendes Umfeld haben oder nicht wollen, dass andere von dem Eingriff erfahren, spielen öffentliche Verkehrsmittel in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle. Im Falle eines medizinischen Eingriffs wird die Schwangerschaft durch die Einnahme des Hormons Mifepriston abgebrochen. Für diese Methode sind drei Besuche beim Arzt oder in der Klinik erforderlich¹¹. Aufgrund möglicher schwerwiegender Nebenwirkungen können längere Reisen für die Patientin besonders belastend sein, so dass diese Reisen eine zusätzliche Belastung darstellen. Nach dem dritten Schwangerschaftsmonat wird die Aspirationsmethode in Deutschland nur noch in Einzelfällen durchgeführt. Vielmehr wird eine Geburt mit Hilfe von Wehenmitteln¹⁰ eingeleitet.
Hinzu kommt, dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte rückläufig ist. Im Jahr 2020 hatten zum Beispiel 39 Ärztinnen und Ärzte in München die Erlaubnis, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Die Hälfte von ihnen war über 60 Jahre alt, einige sogar über 70. In den letzten zehn Jahren (Stand 2020) sind 20 Ärzt*innen nicht mehr für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zur Verfügung gestanden, während nur sechs neue Anträge auf eine Genehmigung gestellt wurden⁶. Ein Gynäkologe führt den Mangel an Nachfolgern auf zu niedrige Preise für ein zu hohes Risiko zurück6.
Es kann also in Zukunft damit gerechnet werden, dass der Zugang zu Versorgung schlechter werden wird. Entweder durch abnehmende Angebotsdichte oder durch steigende Behandlungskosten, die ohnehin schon ein Problem für einige Betroffene darstellen können.6
Methoden und Ergebnisse
Um unsere Karte zu erstellen, haben wir eine Liste aller Kliniken und Mediziner*innen heruntergeladen, die in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche durchführen und bei der Bundesärztekammer registriert sind³. Vor der Aufhebung des §219a wurde 2019 eine zentrale Liste von der Bundesärztekammer erstellt, um den Zugang zu Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zu verbessern, die monatlich aktualisiert wird. Die Eintragung in die Liste ist freiwillig. Mit Stand vom Juni 2022 sind insgesamt 369 Standorte verfügbar. Für jeden Standort haben wir mit dem openrouteservice Isochronen mit unterschiedlichen Fahrzeitintervallen berechnet. Eine einzelne Isochrone stellt das Gebiet dar, das von einem Ort aus innerhalb einer bestimmten Zeitspanne erreichbar ist. Wir gehen von einem Best-Case-Szenario mit einem Autofahr-Routenprofil aus. Die Isochronen wurden mit einem 1 km-Raster aus dem Zensus 2011 kombiniert, das Bevölkerungs- und demografische Informationen für jede Zelle enthält. Auf diese Weise können wir für jeden Quadratkilometer in Deutschland das Verhältnis von Frauen und Ärzt*innen oder Kliniken, die potenziell in einem Zeitintervall erreicht werden können, schätzen. Auf der Grundlage zusätzlicher Informationen für jede Klinik oder jeden Arzt und jede Ärztin haben wir zwei weitere solcher Karten erstellt: eine, die nur die Standorte berücksichtigt, die die Fähigkeit, eine Fremdsprache zu sprechen, angeben, und eine andere, die nur Standorte umfasst, die chirurgische Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Chirurgische Schwangerschaftsabbrüche können die einzige Option für Eingriffe sein, die später in der Schwangerschaft durchgeführt werden, oft nach der 9-Wochen-Marke.
Die meisten Ballungsgebiete weisen eine hohe Dichte an Zugangsmöglichkeiten zu Abtreibungsdiensten auf. Die Abbildungen 1-3 verwenden alle die gleiche Symbolik, um die Kombination aus der Verteilung der Frauen und der Verteilung der Ärzt*innen innerhalb einer einstündigen Autofahrt zu veranschaulichen. In den Abbildungen 2 und 3 werden jedoch gefilterte Klinikstandorte verwendet. Je heller die Karteneinheit ist, desto weniger Ärzt*innen sind verfügbar. Je dunkler das Rot, desto mehr Frauen leben in diesem Gebiet. Die bivariate Karte zeigt eine schlechte Versorgung in großen Gebieten im Norden und Osten Bayerns. Generell fällt der Süden mit den größten Versorgungslücken auf. Dicht besiedelte Gebiete wie Nürnberg, Freiburg und die Bodenseeregion werden jeweils nur von einer einzigen Klinik versorgt. Noch schlechter sieht die Versorgung aus, wenn wir die Abbildungen 2 und 3 mit den gefilterten Kliniken betrachten. Beim Zugang zu Kliniken, die die Fähigkeit, mindestens eine Fremdsprache zu sprechen, angeben, ist die Abdeckung in ländlichen Gebieten sehr dünn bis gar nicht vorhanden. Gebiete zwischen Berlin und Hamburg und ganz Bayern mit Ausnahme von München sind nicht abgedeckt. Nur der Zugang zu Kliniken, die chirurgische Eingriffe vornehmen, ist schlechter abgedeckt. Nach dieser Eigenschaft gefiltert, verbleiben nur vier Kliniken im gesamten Süden.
Einschränkungen
Es ist wichtig zu beachten, dass wir uns in dieser Analyse nur auf die 368 Kliniken und Ärzt*innen beziehen, die bei der Bundesärztekammer registriert sind. Es ist möglich, dass andere Mediziner*innen vor der Abschaffung des §219a Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt haben, ohne sie anzuzeigen. Die Vollständigkeit der Angaben der Kliniken zu Fremdsprachenkenntnissen und Abtreibungsmethoden ist mit Unsicherheit behaftet. In unserer Analyse haben wir nur die Kliniken berücksichtigt, die eindeutige Angaben zu einem dieser Merkmale gemacht haben, während viele Kliniken solche Angaben nicht gemacht haben und aus der Analyse ausgeschlossen wurden. Darüber hinaus geht unser Erreichbarkeitsmodell von einem Pkw-Routing-Profil aus, das sicherlich nicht die durchschnittliche Patientin einer Abtreibungsklinik widerspiegelt. Daher wird in der vorliegenden Analyse ein Best-Case-Szenario für die Erreichbarkeit eines Standorts für sichere Abtreibungen untersucht. Andere wichtige Dimensionen des Zugangs, wie z. B. die soziale oder finanzielle, wurden nicht berücksichtigt.
Weitere Informationen:
- Accessibility of covid-19 vaccination centers in Germany
- Introducing the Open Healthcare Access Map
- Mapping physical access to health care for older adults in sub-Saharan Africa and implications for the COVID-19 response: a cross-sectional analysis
- Flood Impact Assessment on Road Network and Healthcare Access at the example of Jakarta, Indonesia
Quellen:
[1] https://www.nytimes.com/interactive/2021/05/18/upshot/abortion-laws-roe-wade-states.html
[2] https://katapult-magazin.de/en/article/wer-abtreiben-will-macht-es-auch-illegal
[3] https://www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/schwangerschaftsabbruch
[5] https://www.deutschlandfunk.de/schwangerschaftsabbrueche-in-deutschland-warum-immer-100.html
[6] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-abtreibung-aerzte-mangel-1.5121832
[8] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218.html
[9] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218a.html
[10] https://taz.de/Spaetabtreibungen-in-Deutschland/!5681768/
[11] https://www.profamilia.de/themen/schwangerschaftsabbruch/
[13] https://www.tagesschau.de/inland/219a-gestrichen-101.html